Dr. Faustus – seines Zeichens ein Mystiker der kriminellen Organisation Hydra – erweckt mit seinen Gehilf:innen die Mutter der Dämonen – auch bekannt als Lilith – zum Leben. Sie soll ihm helfen, die Welt zu erobern und unter seine Fittiche zu bringen. Nun, er hat aber falsch kalkuliert, denn Lilith denkt natürlich nicht daran, sich irgendwem zu unterwerfen, sondern hat eigentlich nur eines im Sinn: Den Gott Chachton zu erwecken.
Und da Lilith eine Naturgewalt ist, andere ihren Willen aufzwingen und sie unterwerfen kann indem sie ihre Ängste ausnützt, fallen auch rasch die ersten Superhelden unter ihren Einfluss und werden zu ihren Handlangern.
Es bleibt also nicht viel übrig, als die Midnight Suns – eine Gruppe Superheld:innen, die in einer Taschendimension über „The Hunter“ wachen – zu rekrutieren und besagte(n) Hunter ebenfalls wieder zum Leben zu erwecken. Denn Hunter ist das Kind von Lilith. Und vor 300 Jahren hat dieses Lilith bereits einmal besiegt.
Alle Hoffnung ruht nun auf Hunter. Eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen, die Midnight Suns mit den Avengers zusammenführen und dafür sorgen, dass Lilith Einhalt geboten wird? Klare Sache. Mit nicht wenigen Kompliaktionen auf dem Weg …
Als ich in den Trailer gesehen habe, dass Firaxis (die Macher:innen von „XCOM“ und „XCOM 2„) jetzt auf Kartendecks umgestiegen sind war für mich klar: ich mache da einen Bogen drum, denn irgendwie reizen mich diese Deck-Building-Spiele überhaupt nicht. Warum ich mich dann doch dazu entschlossen habe der ganzen Sache eine Chance zu geben? Ich weiß es nicht mehr. Neugier. Ein Sale von „Midnight Suns“ inklusive allen DLCs. Sowas in der Art.
Und ich habe keine Sekunde davon bereut. Auch wenn ich naturgemäß erst mal umdenken musste, nur um dann festzustellen, dass eigentlich eh alles wie bei XCOM ist – mit zwei großen Ausnahmen.
Die erste Ausnahme bezieht sich auf die Story und das Rundherum. So toll ich XCOM und XCOM 2 gefunden habe, so war die Story nicht unbedingt das größte Highlight von beiden. Der Fokus lag klar auf dem Management und der Handhabe „eurer“ Truppe an selbst erstellen Soldaten bzw. Widerstandskämpfer:innen. Das ist hier anders. Zwar baut man sich seinen oder seine Hunter selbst zusammen, und man kann sie während des Spiels auch klar insofern formen, als dass sie eher zur „guten“ Seiten oder zur „dunklen“ Seite gehört und auch ihre Beziehungen zu anderen Held:innen kann stark beeinflusst werden, aber alle anderen Figuren und wann sie wo auftauchen sind klar vorgegeben.
Das bedeutet, dass wir Missionen mit Magik, Ghost Rider, Blade, Iron Man, Dr. Strange und später auch Wolverine, Captain America und – wer die DLCs hat – auch Venom oder Storm durchführen, mit dem Ziel Liliths Pläne zu vereiteln, Hydra das Handwerk zu legen und – erneut: Wer die DLCs hat – Dracula und Sin aufzuhalten.
Dazu leben wir uns im Game-Hub namens „The Abbey“ ein, erforschen das große Gelände, lösen dort Mini-Rätsel und finden viel Sammelkram und Hintergrundinformationen. In erster Linie bauen wir jedoch Beziehungen zu den mit uns hier verweilenden Superheld:innen auf. Und das ist die erste wirklich große Änderung: Ich war völlig platt, wie viel Dialog und Story hier drin stecken. Richtig, richtig viel Dialog und Story. Und beides ist wirklich gut gelungen. Die Dialoge können manchmal ein wenig länger dauern als nötig, aber da die Synchrosprecher:innen richtig gut sind, war es mir nie langweilig – zumal wirklich jedes Gespräch Sinn ergibt im Kontext und auch die Bindung zu den Figuren damit wirklich stärker wird.
Ein absolutes Highlight war für mich Iron Man, der nicht nur stark geschrieben ist, sondern auch perfektes Voice-Acting bietet und so viele witzige, typische Tony-Sprüche auf einen Haufen – großartig. Diese Figur ist enorm großartig. Aber das trifft auch auf alle anderen zu. Egal ob Spider-Man, Ghost Rider oder die eher unbekannten Nico und Magik – Hammer. Blade ist eine absolut coole Socke und nach „Midnight Suns“ will man unbedingt mehr von ihm sehen – egal, ob auf der Leinwand oder als Serie. Hauptsache die Figur ist so gut geschrieben wie hier. Wenn es ein Spiel dann sogar schafft, dass man die overpowerte Captain Marvel symapthisch findet, dann spricht das doch schon ziemlich FÜR das Drehbuch-Team.
Und – ich weiß, schon wieder – wer die DLCs hat, der oder die kommt auch in den Genuß (ja, Genuß) von Deadpool. Auch der wurde wirklich gut getroffen.
Die zweite Änderung betrifft die Kämpfe: Es gibt jetzt ein Kartensystem, welches alle Fähigkeiten der verschiedenen Held:innen auf sie angepasst beinhaltet. Diese lassen sich – wenn man zwei gleiche Karten hat – upgraden (passenderweise bei Blade, der das Training über hat). Pro Figur gibt es eine Menge Karten, aber immer nur acht kann man in den Kampf mitnehmen und pro Runde werden ein paar davon gezogen. Zufallsgenerator. Drei Karten darf man pro Zug (egal ob vom gleichen Helden oder von verschiedenen) ausspielen. Zwei darf man auf Wunsch neu ziehen. Und außerdem darf man einmal eine Figur bewegen – und dabei gleichzeitig, so gewünscht eine gegnerische Figur aus dem Weg oder – bevorzugt – in harte, schmerzhafte Gegenstände schubsen. Manche Karten bringen „Helden“-Punkte und andere Karten brauchen eine bestimmte Menge dieser Punkte um ausgespielt werden zu können. Wieder andere Karten – „Quick-„-Karten – haben die Möglichkeit, dass kein Ausspielen verbraucht wird, wenn bei ihrem Ausspielen ein Gegner K.O. geht.
Die Kampfarenen sind relativ klein, dafür mit allerlei Kram vollgestellt, den unsere Superheld:innen gut für sich nutzen können: Kisten durch die Gegend schießen, Gegner in Stromkästen schubsen oder Straßenlaternen auf deren Birnen knallen lassen. Auch hier sind Heldenpunkte notwendig. Wer klug plant, der oder die kann so ganze Kettenreaktionen auslösen oder in Kombination mit den „Quick-Karten“ sozusagen oder dem Ausspielen einer Karte (bzw. dem Ausspielen und Zurückerhalten) ganze Kampfarenen leer räumen.
Das alles liest sich kompliziert, ist aber nach zwei, drei Kämpfen relativ leicht zu durchschauen und die ganze Angelegenheit ist viel taktischer als ich es erwartet hatte. Meine Befürchtung bei so Kartenspielen ist ja, dass immer alles vom Faktor Glück abhängt, aber das hier ist nicht so. Im Grunde ist es immer spannend und immer ein neues kleines Rätsel, wie man jetzt mit den Karten die man hat, die bösen Jungs und Mädels vermöbelt. Es gab eigentlich bis zum Ende meiner über 60 Stunden langen Kampagne immer spannend und die Kämpfe wurden mir nie langweilig.
Das liegt auch daran, dass die Kombinationen aus Gegnertypen sich immer wieder neu mischen und bis zum Ende hin immer wieder neue Feinde eingführt werden. Auch die sogenannten „Fallen“ (Superhelden, die unter Liliths Kontrolle sind), die immer wieder auftauchen können und besonders mächtig sind, sowie verschiedene Missionsziele, haben mich wirklich bis zum Schluss super unterhalten und ich kann nur wiederholen: Es war nie langweilig, nie unfair – aber immer fordernd.
Auch die Aufteilung der Spielelemente hat für mich super funktioniert. Am Morgen macht man eine Runde, redet mit wem man will, sieht sich an, was Strange und Stark erforscht haben, upgraded Karten, traniert mit Kolleg:innen und spricht mit allen möglichen Superheld:innen, die alle so ihre Problemchen – auch untereinander (für mich war die Storyline von Peter mit Robbie und Tony Stark ein absolutes Highlight) – haben.
Hat man alles beisammen was man wollte, dann geht es ab zum Missionstisch und dann spielt man entweder eine „generische“ Mission, die Belohnungen im Sinne von Upgrade-Material und Freundschaftspunkten bringt, oder eine Story-Mission, welche eigentlich alle unglaublich gut inszeniert sind. Ich bin der Meinung, dass die Story von „Midnight Suns“ auch als Filmreihe oder TV-Serie perfekt funktionieren würde.
Kommt man von der Mission retour, so kann man mit den anderen noch plaudern, sich beratschlagen, mit ausgewählten Personen zu zweit abhängen oder die Mysterien des Abbey-Umlands erforschen. Was ich sehr empfehlen würde. Das Ding ist größer und mit mehr Sachen vollgestopft als ich zuerst dachte. Auch wenn ich gestehen muss, dass die Rätsel per se diesen Namen nicht verdienen. Spaß hat es trotzdem gemacht.
Technisch ist alles auf astreinem Niveau – ich hatte keine Bugs, keine Grafikfehler und alles hat super geklappt. Ladezeiten gibt es, die sind aber angenehm kurz und ganz wichtig: Für die Animations-Leute muss ich eine absolute Lanze brechen.
Wenn man es genau nimmt, so sind die Gefechte ja ein Kartenspiel, in dem es darum geht, die Lebenspunkte der anderen durch das Ausspielen diverser Karten gegen Null zu bringen. Mehr ist es im Grunde nicht. Aber was da optisch abgeht und wie das alles inszeniert ist – Hut ab. Egal ob Tony seinen Iron Man-Anzug nutzt, Wolverine seine Krallen sprechen lässt, Nico ihren Zauberstab benutzt oder Magik Gegner durch ihre Portale tritt. Das sieht alles dermaßen genial und cool aus – das wird selbst beim einhundersten Mal ansehen nicht langweilig, weil es einfach so dynamisch wirkt. Alle Achtung – wie sagt man: Die Optik isst mit. Hier stimmt das auf jeden Fall und die Optik ist – egal ob wir vom Art-Design, den Animationen oder der Inszenierung sprechen – 1A gelungen. Großen Respekt.
Die Story hat auch die eine oder andere Wendung und es tauchen immer wieder Mal neue Figuren auf, die sich euch dann später (oder gleich) anschließen – und alle haben Sinn in diesem Setting. Aber nicht nur das. Auch die Entwicklungen der Figuren untereinander werden beachtet und da werden meiner Ansicht nach auch wirklich gute – wenn auch vielleicht nicht per se neue – Geschichten erzählt. Die Freundschaft von Peter und Robbie zum Beispiel, die zarten Bande von Blade und Captain Marvel, die Hass-Liebe von Tony und Stephen Strange, die pragmatische Art von Wolverine oder die Erfahrungen, die Magik im Limbo mit Mephisto gemacht hat (perfekt geschrieben übrigens. Mephisto war ein weiteres Hightlight!) – all das ist mit der grundsätzlichen Story gut verwoben, bringt die Figuren näher und führt tatsächlich dazu, dass man sich für deren weiteren Weg interessiert.
Und das Finale ist dann das Tüpfelchen auf dem I, wenn ich das ohne Spoiler so sagen darf. Ich habe mir schon sowas in der Art erwartet, denn wenn man zwischen den Zeilen lesen kann und auch die Gespräche von Sara (auch bekannt als „Cartaker“ – quasi Prof. X der Midnight Suns, Schwester von Lilith und Ziehmutter von Hunter) über die Vorgeschichte von Lilith und ihre Verbindung zu Agatha (Harkness. Jetzt, wo ich diese Version der Figur kenne, verstehe ich, warum so viele die Serie „Agatha All Along“ nicht mochten) sind im Laufe der Handlung wirklich berührend.
Alles in allem: Ich kann nur allen die sich für Marvel-Superheld:innen interessieren und sich ein klein wenig für Strategie-Spiele erwärmen können ans Herz legen. Ebenso umgekehrt: Alle deren Herz für Strategiespiele schlägt und nur minimales Interesse an Marvel-Superheld:innen haben – gönnt euch „Midnight Suns“.
Das Kampfsystem macht richtig Laune und ist super durchdachte. Die Figuren großartig geschrieben und die Hauptstory zwar ein klein wenig vorhersehbar, aber wunderbar inszeniert und die Atomsphäre ist großartig.
„Midnight Suns“ bekommt von mir 9,5 von 10 möglichen, das in meinen Augen bis dato bester Superheld:innenspiel darstellende, Punkte.