Elephant (Filmkritik)

Es ist ein völlig normaler Tag in der High School. Schülerinnen und Schüler gehen ihren wichtigen und unwichtigen Tagesabläufen nach. Nichts Außergewöhnliches per se.

Bis zwei Schüler mit Waffen zur Schule kommen und anfangen alle und jeden, den/die sie sehen über den Haufen zu schießen.

Das ist vermutlich die kürzeste Zusammenfassung eines Films, die ich je getippt habe. Aber tatsächlich ist das der Inhalt von „Elephant“. Ich habe den Film damals, als er rausgekommen ist im Jahre 2003 gesehen und ich war sprachlos. Ich bin es immer noch, wenn ich es genau nehme. Und gleichzeitig bin ich voller Rededrang. Was Gus Van Sant („Good Will Hunting“) hier abgeliefert hat ist ein schweres Stück Film, welches sich beim Ansehen alledings richtig leicht anfühlt. Aber um zu begreifen, warum dieser Film gut und sehenswert ist, muss man ein wenig ausholen.

Zuerst mal die technischen Aspekte des Filmemachens: Der Film ist brilliant gefilmt. Es gibt viele „Tracking Shots“, in denen einfach die Schülerinnen oder Schüler mit der Kamera verfolgt werden und man beobachtet sie in ihrem Alltag. Es gibt wenig Schnitte, die Kamera geht bei Nahaufnahmen nah ran und dann folgt sie wieder mit mehr Abstand, usw. Wirklich großartige Kameraarbeit und Bilder, die hängen bleiben, nicht weil sie so außergewöhnlich und bombastisch sind, sondern weil sie Alltag sind. Ganz normaler Alltag, den wir alle in der einen oder anderen Form kennen.

Und das macht es dann so hart, wenn der Bruch kommt und die Schießerei losgeht. Ohne wirkliche Vorwarnung. Ohne Grund. Ohne merkliche Veränderung in der Bildsprache. Das Gezeigte bleibt „banal“, wenn so etwas wie zwei amok laufende Schüler banal sein kann. Es wird nichts auf die Wirkung hin inszeniert. Es gibt hier keine Bilder bzw. Szenen, die „schocken“ sollen, sondern es wird einfach gezeigt was passiert. Ob man geschockt ist oder nicht, liegt am eigenen Empfinden, aber es wird nicht von der Inszenierung (oder gar Musik) irgendwie aufgebaut. Das ist ein Wagnis und führt natürlich dazu, dass jede/r Seher:in verschieden reagieren wird, es macht es aber auch – finde ich – unmöglich diese Form der Gewalt bzw. diese Form der Darstellung von Gewalt „cool“ oder „geil“ oder wie auch immer zu finden. Es die Banalität der Gewalt, fast beiläufig. Ein Zucken des Fingers. Ende. Emotionslos fast. Das kann man unmöglich cool finden. Es ist fast … langweilig. Und deshalb trifft es so hart, weil es schlichtweg so nah und echt und banal wie im wirklichen Leben ist.

Dazu kommt das brillante Skript, welches so gut wie mit allen Traditionen bricht und dadurch auch die Bildsprache unterstreicht. Oder die Bildsprache unterstreicht das Skript. Wie man es halt sehen mag. A würde ohne B nicht funktionieren.

Es gibt nämlich nicht wirklich Hauptfiguren in diesem Film. Ja, schon, natürlich, aber nicht im üblichen Sinne. Und schon gar nicht in der üblichen Inszenierung. Filme bestehen ja im Regelfall aus „Wenn, dann“ oder anders gesagt aus einem Auslöser und einer Reihe von daraus resultierenden Konsequenzen, die aufgrund der Charaktere ihren Lauf nehmen. Man weiß im Regelfal, warum am Ende XY gegen YX kämpft. Man weiß, warum Person F diese oder jene Sache tut. Wir bekommen eine Melange aus Ursache und Wirkung präsentiert. Was anderes sind Filme nicht, wenn man es genau nimmt. Und im Zentrum steht immer ein, oder mehrere, Konflikt(e).

Das fehlt hier völlig. Hier gibt es keine Ursache-Wirkung. Hier gibt es nur: Folgendes passiert. Kein Aufbau dieser Szene im Sinne einer Abfolge von Aktivitäten, die auf diese Konsequenz hinauslaufen. Kein Spannungsaufbau im Sinne von Herr G hat das hier gemacht, deshalb wird später dies oder jenes mit ihm passieren. Hier gibt es Mädchen M. Die hat ein Schulprojekt und ihr Ziel ist es, dieses umzusetzen und dafür muss sie A, B und C machen. Und wir begleiten sie dabei. Und am Weg zu C trifft sie auf die Schulkollegen mit Waffen, die sie ohne ein Wort darüber zu verlieren erschießen. Punkt.

Das ist starker Tobak, wirft unzählige Fragen auf und ist echt nicht leicht auszuhalten, weil es schlichtweg die Sicherheit, die man üblicherweise beim Filmsehen hat, rausnimmt und man nie weiß, was passiert. Und: Man weiß nie, warum. Sicher kann man in viele Dinge, die Van Sant zeigt, hineininterpretieren was er damit sagen wollte, aber das ist es ja: Er sagt es nicht. Er zeigt was passiert. Ende.
(Und ja, natürich ist mir klar, dass die Auswahl dessen, was man zeigt ja bereits eine Selekton der Darstellung ist und somit auch eine Entscheidung, welchen Teil der Information ich als Filmemacher weglasse und es allein schon dadurch keine Objektivität geben kann, weil ich zB allein schon mehrere parallel laufende Handlungen chronologisch zeigen muss und auch diese Entscheidung bereits eine Beeinflussung der Wahrnehmung der Seher:innen darstellt, usw. … ja, danke. Ich kenne die Theorien und Diskussionen aus der Filmtheorie.)

Der Titel des Films ist eigentlich die große Lösung zum Verständnis, wie dieser Film gedacht und gemacht ist: Es gibt eine Geschichte (ich glaube sie kommt aus Indien), die in etwa so geht: Drei weise Männer streiten sich, wer der Klügste ist. Da kommt ein vierter Mann und sagt: „Ich kenne da einen Test, mit dem können wir das rausfinden.“ Alle drei bekommen die Augen verbunden und werden rund um ein großes Tier aufgestellt. Sie müssen mit ihren Fingern ertasten, was sie da vor sich haben. Der erste steht beim Bein. Tastet herum. Ist sich, weil er ja so klug ist, sicher: „Das ist ein Baumstamm.“ Der zweite hat den Rüssel erwischt und meint siegessicher: „Dummkopf. Ich fühle doch: Es ist eine Schlange!“ Und der Dritte wiederum, der beim Bauch gelandet ist, ruft: „Ihr habt ja keine Ahnung: Hier haben wir ein Nilpferd!“. Keiner hat recht. Weil keiner das gesamte Bild sieht: Einen Elefanten nämlich. Soll heißen: Jede Wahrnehmung kann nur ein Teil des Ganzen sein. Wenn du nicht weißt, wie groß das Ganze ist, kannst du dir nie sicher sein, ob du auch das Ganze siehst. Oder mit den Worten von Daniel Gildenlöw (Pain Of Salvation): „Wer in einem Haus steht kann es nicht zeitgleich von außen ansehen“.

Dieser Film funktioniert genauso: Es gibt keine einfache, klare, simple Antwort auf die Gewalt in diesem Film. Es gibt keine „eine“ Urasche und die Wirkungen daraus. Es ist ein komplexes Bild, mit ganz vielen „wenn, dann“ oder besser: mit ganz vielen „könnte nicht vielleicht?“.

Und das macht diesen Film so unheimlich stark und gleichzeitig heftig: Er sagt nichts und dadurch fast alles. Er ist unheimlich brutal, aber zeitgleich auch überhaupt nicht. Er ist der Balanceakt zwischen Frage(n) und Antwort(en). Und das macht er quasi perfekt.

„Elephant“ bekommt von mir 9,5 von 10 möglichen, schockierend nachdenklich machende, Punkte.


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