Mennoiten-Gemeinde. 2010. Jahrelang sind Frauen blutverschmiert zwischen ihren Beinen, Kratzspuren und anderen Wunden, sowie ohne Erinnerung an die vorige Nacht aufgewacht. Die Männer haben gesagt, dass sie vom Teufel oder von Dämonen angefallen und attackiert wurden, der oder die ihnen danach die Erinnerung genommen hat. Bis 2010. Da wurden Männer erwischt, wie sie eine der Frauen vergewaltigt haben und als sie entdeckt wurden sind sie davon gelaufen. Die nächste Erkenntnis: Sie waren mit betäubt worden – und zwar mit Mitteln, die man üblicherweise Kühen spritzt, bevor man sie schlachtet. Es gab eine Anzeige (und einen Mordversuch). Die Männer wurden vor Gericht gestellt.
Bis hierhin ist das alles wahr.
Während die versammelte Mannschaft sich auf den Weg in die Stadt macht, um die Kaution für die Täter aufzutreiben und sie freizukaufen, stimmen die Frauen ab, was sie tun sollen:
a) bleiben und kämpfen
b) fortgehen
c) nichts tun
Die Abstimmung geht unentschieden zwischen „bleiben und kämpfen“ und „fortgehen“ aus. Deshalb wird eine Delegation gewählt, die ausdiskutieren soll, was man nun tun soll. Diese trifft sich auf einem Heuboden. Protokoll führt August (Ben Wishaw), da die Frauen weder Lesen noch Schreiben können. Er soll mitnotieren, was sie besprechen, damit dieser einmalige Vorgang für die die Nachwelt bzw. ihrer Kinder dokumentiert bleibt.
August ist vor vielen Jahren aus der Kommune rausgeworfen worden, weil seine Mutter zu viel hinterfragt hat. Nun ist er wieder hier, weil er als Lehrer arbeitet und hofft, den Jungs neue Wege beibringen zu können.
Sarah Polley habe ich seit „Mein Leben ohne mich“ auf dem Schirm. Damals war sie allerdings „nur“ Schauspielerin. Dieses Mal hat sie auch das Drehbuch und die Regie übernommen (wie auch schon bei anderen Filmen) und bereits am Anfang des Films wird eingeblendet, dass die folgende Diskussion eine Fiktion ist, wie sich eine Frau vorstellt, dass dies passiert sein kann. Nun, diese Fiktion ist nicht die Idee von Polley gewesen, sondern basiert auf dem Roman „Women Talking“ von Miriam Toews.
Die Ausgangssituation des Films ist dermaßen unglaublich, dass ich beim Ansehen gleich mal stoppte, um nachzuforschen, ob das jetzt wirklich passiert ist. Spoiler: Ja, ist es. Das muss man dann erst einmal sickern lassen.
Was folgt ist eine lange Diskussion zwischen den Frauen, über die weitere Vorgehensweise. Und diese hat es in sich. Was hier passiert ist unheimlich deprimierend. Die Themen die abgedeckt werden laufen über religiöse Abhängigkeit, über das Schicksal der Kinder, über die Frage, ob man jungen Männern auch andere Verhaltensweisen lehren kann oder ab welchem Alter das zu spät ist, ob man bleiben und kämpfen soll, was ja auch bedeuten würde, man muss bereit sein im Notfall zu töten, über noch so viele Dinge. Und über Verzeihen. Über Aushalten. Über Opfer bringen. Über ganz, ganz viel.
Und ich bin überrascht wie selten hier ein erhobener Zeigefinger auftaucht. Sicher, für Menschen, die der Welt im allgemeinen eine „woke“-Agenda unterstellen, die werden bei diesem Film hier ganz viele Angriffspunkte finden können. Das ist allein schon vom Thema her quasi aufgelegt. Aber tatsächlich ist der Film einerseits zu mitreissend, um daran einen Gedanken zu verschwenden, auf der anderen Seite ist die Ausgangslage ein Faktum – das kann man nicht wegdiskutieren. Die Frauen, die hier zusammensitzen haben alles Recht der Welt die Dinge zu sagen, die sie sagen und ja, sie sagen viel.
Sie sagen auch viel über Schuld, weil man so lange zugesehen hat und sich schon dachte, dass die Antworten die sie auf ihre Fragen bekommen haben, nicht stimmen können. Schuld, weil sie zugesehen haben, wir ihre Jungs mit dem gleichen Weltbild aufgewachsen sind, wie die Männer, die dies zu verantworten haben. Schuld, die eigenen Töchter nicht vor diesem Schicksal bewahrt zu haben.
Und über die allem die Frage, ob man die Männer (und Jungs) zum Umdenken bringen kann. Ob man das besprechen kann. Ob man ihnen beibringen kann, dass das, was sie getan haben, falsch war. Und immer wieder die Frage was denn nun zu tun sei? Die Männer kommen in zwei Tagen wieder aus der Stadt zurück. Bis dahin muss die Entscheidung gefallen sein, oder es braucht keine Entscheidung mehr.
Die Ein-Satz-Version dieser Kritik lautet: Unglaublich, wie spannend, intensiv, zum Nachdenken anregend, berührend, schockierend, wütend und auch ungläubig staunend machend ein Film sein kann, der im Grund aus Frauen besteht, die auf einem Heuboden hocken und reden – Ansehen. Punkt.
Die längere Version lautet: Ich bin von den schauspielerischen Leistungen der Damen extrem beeindruckt, die hier durch alle Emotionen gehen, die es gibt. Und das völlig ohne Ausfall. Die einzelnen Figuren sind, wie zu erwarten, zum großen Teil personifizierte Standpunkte, die allerdings alle einen persönlichen Hintergrund haben. Und immer wieder taucht auch die große Angst auf, ob man denn nicht in den Himmel komme, wenn man die Kommune verlasse, denn der Glaube sagt das man nur ins Himmelreich eingehen kann, wenn man hier bleibt.
Es ist auch faszinierend, wie wenig von alldem hier aufgesetzt wirkt. Die einzige Rolle, die mir ein bisschen auf den Senkel ging war jene von Rooney Mara (Oni), was aber auch daran liegen kann, dass ich die Schauspielerin seit ihrem „Nightmare On Elm Street“-Bashing nicht mehr so richtig leiden kann. Aber natürlich spielt der Charakter der Figur mit, denn so heilig und verzeihend und … nett, ja, so uneingeschränkt vergebend und nett, wie Oni kann kein Mensch sein. Das war streckenweise einfach ein bisschen zu viel für mich. Alle anderen – wow.
Und auch wer dann die Entscheidung trifft hat mich überrascht. Positiv überrascht. Und auch, dass es danach keine Diskussion mehr gibt. Fand ich großartig.
Der Film ist farblich ziemlich entsättigt und verströmt die gesamte Zeit über – in Anbetracht des Themas nicht verwunderlich – fast eine depressive, trostlose Stimmung. Die Optik geht fast schon in Richtung Schwarz-Weiß-Film und es passt super.
Ich kann und will gar nicht viel mehr zu diesem Film sagen, außer, dass er mich wirklich berührt hat und mir keine Sekunde langweilig war. Das beginnt beim Off-Monolog am Anfang und hat bis zum Ende nicht aufgehört. Und ja, er war dann streckenweise sogar richtig spannend (es gibt da ein, zwei Situationen …).
„Women Talking“ bekommt von mir 9 von 10 möglichen, mit wenigen physischen Mitteln einen wirklich dichten, großartig gespielten und emotional mitreissenden Film erzeugende, Punkte.