NieR: Replicant Vers.1.22474487139… (Game-Review)

Die Krankheit ist bekannt. Sie ist der Grund dafür, dass es nur noch so wenige Menschen gibt: Black Scrawl. Husten, Schwäche und später erscheinen komische Zeichen auf der Haut. Dann dauert es nicht mehr lange und da Leiden hat ein Ende. Auch Yonah hat diese Krankheit. Und ihr Bruder versucht alles, um sie zu heilen und vor dem Tod zu bewahren. Das bedeutet, er ist viel unterwegs, während sie krank zuhause das Bett hütet. Natürlich Stoff für Konflikte.

Während der Suche nach einer Heilung stößt der Bruder auf ein seltsames Buch. Es kann sprechen. Es kann fliegen. Es hat magische Fähigkeiten. Und ist ein bisschen arrogant. Zumindest am Anfang. Der Name des Dings: Grimoire Weiss. Und es ist nun der Begleiter des Bruders.

In der namenlosen Stadt, in welcher die beiden wohnen, gibt es auch die Zwillingsschwestern Popola und Devola. Die eine trinkt und singt gern. Die andere ist so etwas wie die Bürgermeisterin und belesen. Auch sie wollen, dass Yonahs Zustand sich bessert und sie stehen mit Rat und Tat zur Seite.

Der erste Schritt? Die magischen Fähigkeiten von Grimoire Weiss wieder herstellen, denn vielleicht kann seine Zauberkunst ja helfen. Dazu zieht man gemeinsam übers Land und sammelt verloren gegangene „Verse“, also Teile von Grimoire Weiss. Die meisten davon verstecken sich in Schatten bzw. Shades. Das sind seltsame, schattenhafte Wesen, die damals ziemlich zeitgleich mit der Krankheit auftauchten und eine Bedrohung für sich. Und sie kommen immer näher an die Städte heran …

Die Beschreibung der Handlung von „Nier Replicant“ ist etwas schwierig, denn üblicherweise liest man, dass ein Bruder nach einer Heilung für seine kranke Schwester sucht und deshalb über das Land zieht, Gefährt:innen kennenlernt und sich so eine Geschichte über Liebe, Verlust und Hoffnung entfaltet, die epischen Ausmaßes ist. Und ja, was soll ich sagen: Das stimmt grundsätzlich. Aber auch sowas von überhaupt nicht. Denn, nun, ja, es stimmt. Da ist ein Bruder. aber … nun. Und ja, die Schwester ist krank. Das ist an sich schon richtig. Allerdings … hm. Und ja, es gibt die Suche nach einem Heilmittel, klar. Die ist ja der Antrieb für alles. Aber genau genommen … *seufz*.

Jeden einzelnen dieser Sätze kann man nehmen und er ist gleichzeitig wahr und nicht wahr. Das macht es schwierig, weil ich in keiner Weise spoilern will, denn das Beste – mit Abstand – was Nier Replicant zu bieten hat, ist seine Story und seine Charaktere. Da jetzt zu viel zu verraten könnte einiges an Spaß kosten. Deshalb werde ich auch weiterhin wirklich vage bleiben (müssen).

Nochmals kurz zu den Story-Aussagen weiter oben: Vermutlich beschreibt es die Situation am besten, wenn ich es so formuliere: Ja, es gibt einen Bruder und eine Schwester, es gibt die Suche nach einem Heilmittel, es gibt schattenhafte Wesen und Magie – aber nichts davon in einer Art und Weise bzw. in einer Bedeutung, wie ihr es erwartet. So. Mehr kann ich jetzt nicht sagen/schreiben, ohne in gefährliches Spoiler-Territorium zu springen, also mache ich hier soweit mal einen Punkt. Letzte Anmerkung: Die Story ist großartig.

Also einen Schritt zur Seite, nachdem wir das ja – nun, äh – geklärt haben. „Nier Replicant“ ist in dieser Version eine upgedatete Version eines Spiels, welches bei uns schlicht „Nier“ hieß. Nier deshalb, weil der Hauptcharakter eben diesen Namen trug. Angeblich. Ich hab’s nie gespielt. In der aktuellen Version dürft ihr dem Bruder, den ihr spielt, einen eigenen Namen geben. Das wird sogar später bzw. viel später nochmals wichtig. Aber das nur am Rande. Jedenfalls gab es das Spiel in zwei Versionen: In Japan spielte man als Bruder, in Europa und den USA als Vater von Yonah. Warum? Weil, Gründe.

Im Update (die Ziffernfolge im Titel ist die Wurzel aus 1,5) spielt man den Bruder. Passt meiner Ansicht nach auch weit besser zur Story. In diesem Updaten wurden außerdem noch ein paar weitere Veränderungen vorgenommen. Es gibt weitere Nebenstorys, die „Hintergrundgeschichten“ der Waffen wurden aus dem Quasi-Nachfolger „Nier Automata“ übernommen und außerdem gibt es noch einen völlig neuen Epilog (auch als Ending E) bekannt.

Das Gameplay ist eine wilde Mischung, die am Papier nicht funktionieren sollte: Third-Person-Action-Adventure mit coolem (aber leichten) Kampfsystem – in diesem Genre verbringt ihr die meiste Zeit -, aber auch Bullet-Hell-Shooter-Passagen, Visuel-Novel-Teile und sogar ein kleiner Ausflug in isometrische Hack’n Slay-Spiele ist dabei. Das alles passt unerwartet gut zusammen und ergibt im Kontext der Story auch jederzeit Sinn. Die Abwechslung ist weniger als in „Nier Automata“, aber trotzdem abwechslungsreicher als so ziemlich alles andere da draußen.

Aber – unterm Strich erwartet euch ein Third-Person-Action-Adventure, welches auch auf Haupt- und Nebenmissionen schickt, die allesamt auf Sammelaufgaben und/oder Kämpfe hinauslaufen. Teilweise viel Grinding. Teilweise viel Laufwege. Das kann man mögen – muss man aber nicht, zumal die Welt zwar überschaubar groß ist, man jedoch wirklich oft(!) hin und her läuft. Wie dem auch sei: Die Welt ist zumindest schön anzusehen, wenn auch leer – aber das liegt in der Story begründet und die Geschichten, die sich in den Nebenaufgaben verbergen sind zum größten Teil wirklich gut und meistens auch halbwegs tragisch. Wer eine Happy-Life-Version der Welt erwartet, wird hier enttäuscht. Melancholie heißt das Wort der Stunde. Auf allen Ebenen.

Bis jetzt liest sich diese Review vermutlich eher nüchtern, sachlich, trocken und nicht unbedingt wie eine hingebungsvolle Verehrung dieses Spiels, geschweige denn eine absolute Empfehlung. Dazu muss ich an dieser Stelle anmerken: Ich habe es fünf Mal durchgespielt. Und mindestesns einmal davon nicht weil ich es unbedingt wollte.

Ich denke, das sollte ich näher erklären: Nier Replicant ist in zwei Teile geteilt. Der erste Teil (nach einem kurzen Prolog) ist die Geschichte von Yonah und ihrem Bruder, der die „Sealed Verses“ sammelt, drei Gefährten (Grimoire Weiss, Kainé und Emil) umd sich sammelt und der Shades auf der Suche nach einem Heilmittel tötet. Dann gibt es einen zweiten Teil, wieder mit diesen Gefährten und einem anderen Ziel (welches ich hier nicht spoilern will). Den ersten Teil spielt man einmal. Und wenn man dann bis zum „richtigen“ Ende kommen will, dann spielt man den zweiten Teil der Reise nochmals drei Mal. Oder (wenn man an der richtigen Stelle ein Savegame anlegt) zwei Mal. Und anders als bei „Nier Automata“ spielt man wirklich den zweiten Teil nochmals. Im zweiten Durchlauf versteht ihr was die Shades reden, wenn sie reden. Da ändert manchen Kontext gewaltig. Und im dritten Anlauf seht ihr bei manchen Szenen was vor und nach eurer Einmischung passiert ist und was andere Figuren geplant hatten bzw. erfahrt ihr Hintergründe über eure Begleiter:innen, die ihr davor nicht hattet und ich kann allen Storyfreund:innen nur empfehlen: Macht das.

Wenn ihr das Ende D freigeschaltet habt, habt ihr eine Entscheidung treffen müssen, die bedingt, dass ihr beim fünften Anlauf wieder mit Teil 1 startet. Aber nicht lange – beim ersten größeren Bossfight passiert dann ein Wechsel in der Story, den ihr nicht kommen gesehen habt (wie auch?) und ihr spielt quasi den Epilog. Auch hier will ich nicht spoilern.

Um ganz sicher zu gehen, dass ihr versteht: Ihr spielt den zweiten Teil des Spiels mindestens drei Mal. Das klingt jetzt mühsamer als es ist, denn die Bossfights sind unterhaltsam, super inszeniert und gut gemacht und vor allem lässt sich die Hauptstory im zweiten Teil – wenn man weiß, wohin und wie – in knappen drei Stunden oder ein wenig mehr durchspielen. Die Nebenmissionen kann man getrost liegen lassen oder – was ich empfehle – man macht sie alle einfach im ersten Durchlauf. Dann dauert dieser zwar länger, aber dafür kann man sich die „ganze Story“ in kürzerer Zeit zu Gemüte führen.

Jetzt die Frage: Warum macht man das? Ändert sich die Story so dramatisch, dass es wie ein neues Spiel wirkt? Nein. Das wäre dann „Nier Automata“, was ihr meint. Das ist hier nicht so. Werden neue Spielmechaniken eingeführt, die so toll sind, dass man die einfach auskosten will? Ebenfalls Nein. Ebenfalls wieder „Nier Automata“. Gibt es Story-Offenbarungen, die man davor nicht kannte? Ja, das definitiv.

Der Hauptgrund ist jedoch, dass beim „ersten Ende“ einfach so viele Fragen offen bleiben (über Grimoire Weiss, Emil, Kainé), dass man mit dem Wissen den zweiten Anlauf startet, zu erfahren, was mit denen passiert ist. Und das reicht als Motivation völlig aus. Denn glaubt mir: Eure Gefährt:innen sind mitunter die besten Gefährt:innen, die ich seit langem in einem Videospiel dabei hatte. Und man bedenke: Ich rede hier von einem sprechenden, fliegenden Buch (ich habe jeden einzelnen Dialog mit diesem Bastard geliebt!), einem mutierten Jungen, der (Spoiler! Spoiler! Spoiler!) und einer in Lingerié gekleideten Frau, die (aus Gründen, die Spoiler sind) ihren Körper hasst und ein wirklich, wirklich loses Mundwerk besitzt.

Was kann ich sagen? Ich verstehe, warum Kainé eine der beliebtesten Figuren im Nier-Universum ist. Der Beweis, dass man gerne und viel fluchen und trotzdem ein guter Mensch sein kann. Emil? Der wohl mit Abstand liebenswürdigste Junge im schlimmsten vorstellbaren Körper, den man einfach nichts Böses wünschen kann. Und Weiss, oh, Weiss – alleine deine Stimme und die Art wie du sprichst hat mir Stunden versüßt. Ich weiß schon, dass es in jedem zweiten (oder ersten) JRPG um die Macht der Freundschaft geht und bla-bla-bla, aber hier – hier passiert das so unaufdringlich und organisch, dass man einfach irgendwann merkt, wie sehr man diese Figuren mag.

Und deshalb spielt man alle fünf Enden frei: Weil mann wissen MUSS, was passiert. Mit allen von ihnen.

Während „Nier Automata“ also von der Story her ein Wahnsinn ist (Nier Replicant hat da auch einiges zu bieten) und die Spielmechanik der mehrmaligen Durchläufe quasi auch in punkto Abwechslungsreichtum perfektioniert wurde, so hat Replicant hier durchaus seine Längen. Aber die Charaktere machen es wett. Automata ist mit Sicherheit das weit bessere Spiel. Aber die Figuren hier, in Replicant, reißen das dafür wieder raus.

Alles in allem kann ich Replicant wirklich empfehlen – man muss aber einen längeren Atem mitbringen und sich wirklich drauf einlassen wollen. Es ist kein Spiel, welches man „so nebenbei“ spielt.

„Nier Replicant Vers.1.22474487139…“ bekommt von mir 9 von 10 möglichen, als Prototyp für Automata wirklich gelungene und für seine Figuren nur gelobt werden könnende, Punkte.


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