Marcus Holloway ist Hacker. Ein sehr guter Hacker. Deshalb will er auch Mitglied bei DedSec werden, einem Hacker-Kollektiv, welches dem „großen Bruder“ (einer Firma namens „Blume“) den Kampf angesagt hat. Denn Blume hat ein Programm entwickelt, welches die Smart-City wahr werden lässt. Alles – die gesamt Stadt San Francisco – läuft über ihr Betriebssystem CtOS 2.0. (also das Upgrade aus dem aus „Watch Dogs“ bekannten CtOS)
Das dieses Ctos 2.0 Marcus durch diverse Algorythmen als potentiellen Kriminellen auswirft, gefällt diesem gar nicht, also bricht er bei Blume ein und löscht sich selbst (die Ironie in diesem Satz ist Absicht), um dann im Untergrund gegen das vernetzte System zu kämpfen, denn – der Datenklau geht noch viel, viel weiter als die braven Bürger von San Francisco annehmen.
Zum Glück bekommen Marcus und seine DedSec-Freunde Horatio, Wrench, Josh und Sitara bald Unterstützung von einem Schwerkaliber der Hacker-Szene. Und dann geht es richtig los …
Puh, das ist schon eine sehr drastiche Kehrtwendung, die Ubisoft da mit „Watch Dogs 2“ hinlegen. Das erste „Watch Dogs“ war eine streckenweise verdammt harte Rachegeschichte mit einem Protagonisten, der schon mal x Personen ohne mit der Wimper zu zucken niedergeschossen hat. Ein dunkler Rächer. Ohne Skrupel. Trotzdem: Ich mochte Aiden Pearce. Ich bin wohl einer der wenigen, die das zugeben, aber ich fand den ersten Teil super und er hat mir wirklich, wirklich gut gefallen. Sicher, es ging weniger um das Hacken (das war Mittel zum Zweck), als um Rache, aber das passte für mich, da die Geschichte mit der Nichte, dem Neffen, der Schwester und diversen anderen Figuren in meinen Augen super inszeniert war.
Bei „Watch Dogs 2“ geht es ums Hacken. Fast alle Missionen haben damit zu tun. Es geht darum, aufzudecken, wie die Vernetzung der Welt funktioniert und dass die große Freiheit eine große Lüge ist, denn „volle Transparenz“ ist nur dann befreiend, wenn alle(!) voll transparent sind. Aber ich greife vor, denn – und das war überraschend für mich – die Charaktere des Spiels sind allesamt relativ jung, relativ hip und großteils Nerds. Natürlich werden alle Klischees bedient, keine Frage, aber ich finde die Truppe (in der englischen Synchro) verdammt sympathisch. Das sind Kids, die mit den Großen mitspielen wollen und eigentlich nur Nerds sind. Die denken, sie könnten wie ihre Superhelden und Vorbilder die Welt retten und werden doch – Vorsicht: Spoiler! – an der Nase herumgeführt.
Womit ich beim Antagonisten gelandet bin: Der CEO von Blume. Immer wieder erhascht man in Zwischensequenzen nach Missionen kurze Einblicke in seine aktuellen Tätigkeiten und – ich finde diesen Typen wirklich genial. Der ist so in seiner Mitte und steht so über all den anderen – der braucht das nicht mal aussprechen. Man merkt einfach, dass er alles im Griff hat und den anderen einen Schritt voraus ist. Ja, auch unserer DedSec-Gruppe.
So auch, als das erste (oder zweite, je nachdem, wie man es sieht) Zusammentreffen von Marcus und ihm stattfindet. Da ist das erste Mal klar: Leute, ihr Kids habt euch da mit jemand angelegt, der aber sowas von außerhalb eurer Liga spielt … Wundervoll. Ich liebe es. Und die Reaktion, die Marcus an den Tag legt – super. Hat mich ein wenig an „Plan 9 From Outer Space“ erinnert. Wenn der Mensch nicht mehr weiß, was er sagen soll, dann schlägt er halt zu. Ein Zeichen von Hilflosigkeit.
Die Charaktere kann man mögen, muss man aber nicht. Die Kids sind cool, sie sind Klischees, sie sind aber dennoch liebenswert und (nochmals: in der englischen Fassung) und außerdem auch super vertont. Gerade Josh hat sich im Laufe der Zeit zu meinem klaren Liebling gemausert („we are going to cornhole this guy“).
Leider wird der Antagonist später immer mehr vergessen – und je länger das Spiel dauert, desto ernster wird es – was passend ist – aber das Ende ist leider ein wenig schwach geraten. Was auch daran liegt, dass Dusan (CEO von Blume) alles immer mehr entgleitet und er gegen Ende halt nur noch … ein Häkchen mehr auf der Liste ist.
Das Spiel selbst ist vom Gameplay aus betrachtet eine logische Weiterführung des ersten Teils und vieler anderer Spiele von Ubisoft. Eine große Karte, viel zu tun, aber – und das ist neu: Die Schnellreisefunktion ist von Anfang an verfügbar und alle sammelbaren Gegenstände sind sinnvoll, da es sich bei diese eigentlich nur noch um Erfahrungspunkte handelt (die man braucht, um seinen Fähigkeitsbaum auszubauen) oder um Datenpakete, die Fähigkeiten im Fertigkeitsbaum erst überhaupt mal möglich machen. Keine Türme mehr. Keine „Sammle 100 Federn“. Gut so.
Das Autofahren ist anfangs schwammig (Motorräder lassen sich im Gegenzug toll steuern). Dass das Laufen mit dem Drücken der L3-Taste ausgelöst wird führt bei mir immer wieder zu leichten Daumenkrämpfen (ich hab es auf der PS4 gespielt) und leider kann man die Steuerung nicht wirklich anpassen. Grafisch gibt es nichts zu meckern und San Francisco ist bunt und farbenprächtig. Außerdem sind die NPC allesamt super in die Stadt eingebettet – da passiert es schon mal, dass euch ein Passant bei einem Selfie photobombt. Oder ein Türsteher, der auch eine Drag Queen ist, freut sich über die Fotoshootingmöglichkeit. Auch ganze Gespräche die man im Vorbeigehen mitbekommt sind super. Hin und wieder hab ich mich einfach zu Passanten gestellt, um ihren Gespräche zuzuhören. Diese Welt lebt wirklich.
Der größte Unterschied zum Vorgänger ist aber klar der Humor und die Leichtigkeit. Damit meine ich nicht den Schwierigkeitsgrad (aber auch der ist nicht sehr hoch, Jumper und Quadcopter sei dank), sondern das Gegenteil von „schwermütig“. Aiden Pearce war düster, brutal und die Story passend ernst. Hier ist alles locker und flockig – immerhin handelt es sich um einen Haufen Kids, die ja nur ein wenig herum“hacken“ und damit den Leuten die Augen öffnen wollen. „Sie wollen doch nur spielen – sie tun doch nichts“ in etwa.
Und sie merken – zumindest anfangs – nicht wirklich, was sie da eigentlich genau machen. Denn die Geschichten in den Nebenmissionen sind tatsächlich alles andere als lustig. Da findet man eine Versicherungsagentur, die Daten ihrer Nutzer kauft und je nach deren Aktivitäten die Prämien weiter nach oben drückt. Oder ein Mitarbeiter einer großen Firma namens Nudle (die eine Internetsuchmaschine und Nudle-Maps besitzen, wer könnte gemeint sein?) nutzt die Insider-Daten der Firma, um Minderjährige zu verfolgen, zu filmen und Videos davon zu verkaufen.
Manche der Nebengeschichten sind, wie man sieht, verstörend, wenn man genauer darüber nachdenkt. Und die Kids sehen das alles primär als Scherz an. Bis sie irgendwann begreifen: Oh, verdammt. Das ist um so viel Ecken größer als das, was wir gedacht haben. Aber da stecken sie schon bis über beide Ohren drin. Allerdings eben nicht immer überzeugend: Da hat eine gegnerische Hackerin ihr Lager mit Bomben ausgestattet, um Marcus aufhalten, aber der scherzt weiter in der Gegend herum. Von Angst oder Ernsthaftigkei: Keine Spur. Da verbaut sich „Watch Dogs 2“ selbst sein Potential.
Dieser Tonfall, diese „Leichtigkeit“ in der Erzählung kann als manchmal durchaus befremdlich wirken. Vor allem, da Ubisoft noch dazu streckenweise den gleichen Kardinalfehler wie in „Assassin’s Creed: Unity“ begeht: Es führt Figuren nicht ein. Es gibt eine Mission, in welcher Marcus „Miranda“ anruft. Die beiden kennen sich. Wer Miranda ist und woher die beiden sich kennen? Keine Ahnung. Es gibt dazu auch keine Erklärung. Ich dachte, ich hätte vielleicht eine Zwischensequenz versäumt oder so was in der Art. Auch später kommt es immer wieder mal vor, das Dinge „einfach so“ passieren oder bereits erledigt sind. So meint ein Fotograf in einer Nebenmission, wenn er eine gute Story bekommt, dann gibt er Marcus eine wichtige Info. Und Marcus kopiert ihm das Video eines Beischlafes zwischen zwei Promis. Woher er das hat? Keine Ahnung. Abgesehen davon: Warum er das wirklich macht? Keine Ahnung. Da wäre mehr drin gewesen – auch in punkto Entscheidungsfreiheit (die es defakto nicht gibt).
Was ich allerdings ziemlich toll finde: Ich habe tatsächlich vom „Taser“ abgesehen eigentlich keinen einzigen Schuss abgesetzt. Ich kann mich tatsächlich nicht erinnern ein einziges Mal im Spiel ernsthaft geschossen oder jemanden getötet zu haben. Und das ist schon eine verdammt super Sache. Es passt auch weit besser zur Welt und zur Story, denn herumlaufen und ballern wäre ein krasser Stilbruch gewesen und hätte stimmungsmäßig einfach nicht gepasst. Meiner Meinung nach hätte Ubisoft die Knarren und Co einfach streichen können. Am meisten Spaß macht „Watch Dogs 2“ nämlich dann, wenn Marcus die Anlagen nicht mal betreten muss, um eine Mission zu lösen: Dem Hacken (Hallo, Jumper! Hallo, Quadcopter!) sei Dank. Und den Fertigkeitenbaum mit all den „Waffenfähigkeiten“? Ich habe nicht mal einen einzigen Punkt investiert. Wozu auch? Schießen wollte ich nicht und musste ich auch nie.
Die Hauptgeschichte wird leider (erneut: Hallo, Assassin’s Creed: Unity) laienhaft und sprunghaft erzählt und das in einem Tonfall, der wenig bedrohlich wirkt und die eigentlich ernsten Themen sehr, sehr nebensächlich behandelt. Trotzdem (wenn auch nur nebenbei) wird unserer Gesellschaft in Summe der Spiegel vergehalten. Das gilt für die NPCs, die Firmen, den Datenklau, die Vernetzung, aber auch den sorglosen Umgang und Zugang „unserer Truppe“ mit all dem was sie aufdecken, aber auch was sie selbst machen – die Ironie (siehe ganz, ganz oben) erkennt unsere Truppe wenig bis gar nicht. Das kann man auch als Spieler ignorieren oder nicht. Je nachdem. Die Kritik wird einem nie aufs Auge gedrückt. Bei all den (offensichtlichen) Seitenhieben von Ubisoft (auf sich selbst, Google, Facebook, Selfies, sogar die Textnachrichten und Gespräche von Passanten passen super dazu) kann ich mir aber nicht vorstellen, dass jemand nicht versteht, worum es geht und ich finde die Satire außerordentlich gelungen.
„Watch Dogs 2“ ist in Summe ein verdammt großartiges Spiel, das wirklich Spaß macht und hinter der Fassade – leider mit durchaus vermeidbaren Fehlern behaftet – ein starkes Stück Sozialkritik vom Stapel lässt, während es nebenbei noch dazu sehr gut zu unterhalten weiß.
„Watch Dogs 2“ bekommt von mir 8,5 von 10 möglichen, sich anfangs locker-flockig, dann aber ernst werdend durch San Francisco hackende, Punkte.
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